Leben

Wie bereits geschildert, verschlief ich noch die erste Woche im Wirbelsäulenzetrum mehr oder weniger. Wenn ich allerdings das Tagebuch für mich lese - hat mein Freund geschrieben - erinnere ich mich wieder an die eine oder andere Situation.

Ich wollte wieder lesen. Aber einerseits waren Bücher für mich mit meiner Entkräftung schwer zu halten. Zumal ich noch hauptsächlich lag. Und andererseits konnte ich mich noch gar nicht richtig konzentrieren. Also habe ich mit Zeitschriften angefangen. Nach einem Artikel war jedoch die Kraft zum Halten weg und die Konzentration auf dem Nullpunkt.

Selbst fernsehen war anfänglich anstrengend. Ich hatte echt damit zu kämpfen, das Gesehene zu verfolgen und zu verstehen.

Am 15. Tag (05.09.2003) nach dem Aufwachen war ich mit dem Rollstuhl an der frischen Luft. Ich mußte noch geschoben werden. Auf den glatten Krankenhausboden kam ich so einigermaßen allein zurecht. Aber das Krankenhausgelände ist ziemlich uneben und hügelig. Allein kriegte ich das noch nicht hin. Da fehlte mir noch die Kraft. Aber die Luft - es war herrlich.
Von da an ging es fast jeden Tag an die Luft. Schon allein die frische Luft im Zimmer, das Zwitschern der Vögel sind eine Wohltat für die Seele.

Mit den Physiotherapeuten lernte ich wieder das Sitzen, Stehen und Gehen. Ein paar wenige Schritte waren schon eine enorme Anstrengung für mich. Ich schlief danach sofort ein. Aber mein starker Wille ließ mich jeden Tag einen Schritt weiter gehen. Woher ich diesen Willen genommen habe, verwundert selbst mich.

Aufgrund der schwerwiegenden Verletzungen an Ober- und Unterkiefer und der Lippe gab es für mich zu jeder Mahlzeit Breikost oder Suppe. Und da soll man wieder an Gewicht zulegen! Ich hatte nach dem Absetzen der künstlichen Ernährung innerhalb weniger Tage fast 8 Kilo abgenommen.
Ich hatte mit dem Essen ziemliche Probleme, da ich aufgrund des fehlenden Stücks Lippe den Mund nicht richtig schließen konnte. Schon das Essen mit einem Eßlöffel war extrem kompliziert für mich, deshalb "bevorzugte" ich anfänglich einen Kaffeelöffel. Außerdem konnte ich meinen rechten Arm nicht richtig bewegen; ich konnte mir nur mit äußerster Mühe ans Kinn fassen. Also wurde ich gefüttert.
Im Liegen konnte ich am besten essen, da lief mir nämich der Brei nicht wieder aus dem Mund.
Für mich unvorstellbar, mich von jemanden füttern zu lassen. Man ist so völlig hilflos.
Die ersten Tage wurde ich noch von den Pflegern gefüttert. Abends hat es mein Freund gemacht. Aber nach ungefähr einer Woche meinte ein Pfleger, das müsse ich allein hinkriegen. Ein absoluter Tiefpunkt. Ich schaffte gerade mal 3 bis 4 Löffel, die im Mund landeten, da die Koordination von Mund und Arm/Hand nicht paßten. Die Verzweiflung meinerseits war perfekt. Abends sagte ich meinem Freund "dann eß ich eben nichts mehr".
Ja, ich kann ja auch ziemlich bockig sein!
Am nächsten Mittag stand plötzlich meine Schwiegermama in der Tür - und fütterte mich.

Mit sehr viel "Zureden" meines Freundes und viel Training schaffte ich es nach ein paar Tagen dann endlich selbst.

Ich wurde regelmäßig von den Eltern mit "richtigen" Essen versorgt: alles klein püriert, auch Schnitzel. Es waren jedesmal Festessen für mich.

Zum Aufpäppeln bekam ich eine proteinhaltige Zusatznahrung. Leider reagierte ich sehr allergisch drauf. Also mußte ich auf normalen Weg zunehmen - ist aber leichter gesagt wie getan. Da ich mich jeden Tag ein bisschen mehr bewegte, verbrannte ich mehr Kalorien. Und richtig große Portionen konnte ich nicht zu mir nehmen. Wahrscheinlich war mein Magen komplett geschrumpft.

Am Anfang wurde ich noch von Pflegern gewaschen. In meiner Hilflosigkeit war mir selbst das "egal".
Hätte mir jemand vor ein paar Monaten gesagt, dass man mich irgendwann mal in meinem jetzigen Alter waschen und füttern muß, ich hätte denjenigen für verrückt gehalten.
Als ich mich endlich selber waschen konnte, war das für mich ein großer Schritt in die Selbständigkeit. Ich saß dazu zwar noch im Rolli. Aber immerhin. Na ja, danach war ich allerdings auch fix und fertig. Man glaubt nicht, wie anstrengend eigentlich so völlig normale Tätigkeiten sein können.

Am 10.09.2003 habe ich einen kleinen Rekord für mich aufgestellt: ich bin den Gang (ca. 20 m) gelaufen und 20 min. Fahrrad (Hometrainer) gefahren. O.k., danach war ich wie üblich kastenfertig. Beim Laufen mußte mich die Physiotherapeutin noch stützen.
Den nächsten Tag bin ich schon selbstständig ein paar Schritte gewackelt - Leben ich bin zurück.
Mit meinem Eltern ging ich ebenfalls jeden Tag ein paar Schritte weiter. Vorausgesetzt ich war mental gut drauf, sonst ging nämlich gar nichts.
Das Rein und Raus in den Rollstuhl klappt auch mit jedem Tag besser, so das es nicht mehr zum Kraftakt an sich wird.

Der 13.09.2003 wurde zu einem Festtag: ich durfte zum ersten Mal duschen, bzw. wurde geduscht. Ein Abenteuer! Erstmal muß der Kunstpelz aus dem Fixateur entfernt werden. Das geht aber nur im Liegen. Dazu werden vorsichtig die Verschlußlaschen geöffnet und der Pelz rausgetrennt. Dann wieder der Weste verschlossen und dann sollte ich mich auf die Seite drehen, damit der Rückenpelz raus kann. Tja, das mit dem Drehen ist leichter gesagt, als getan.
Und dann gings ab unter die Dusche - natürlich auf `nem "Duschrolli". Das Teil ist aus Kunststoff und somit wasserunempfindlich.
Wasser! Ein herrliches Gefühl. Ich hätte stundenlang unter der Dusche sitzen können. Man hat so ein "dreckiges" Gefühl von sich, wenn man mal mehrere Wochen nicht duchen kann.
In der Zwischenzeit wurde auch mein "Pelz" gewaschen. Bis der trocken war, wurde der Panzer mit Handtüchern ausgepolstert.
Ich schaffte es mittlerweile auf fast 500 Meter spazieren. Neuer Rekord!
Allein traute ich mir jedoch noch nicht zu, im Park zu laufen. Nur in Begleitung meines Freundes oder meiner Eltern. Der Weg war zu holprig und zu "bergig". Die Parkbänke waren immer kleine Zwischenetappen!
Und da der Tag schon mit einem Festakt (Duschen) begonnen hatte, wollte ich noch eins drauf setzen und in der Cafeteria des Krankenhauses einen Cappuccino "trinken". Normal trinken konnte ich wegen der kaputten Lippe noch nicht. Mit dem Strohhalm ging es auch nicht, da ich "falsch Luft zog". Also löffelte Christian mir den Kaffee in den Mund.
Mein Kommentar zum Cappuccino: Das schmeckt nach Leben.

Und immer wieder waren da Duchhänger, absolute psychische Tiefpunkte. Ich war niedergeschlagen und habe ziemlich oft geheult. Auf der einen Seite ist man froh, was man schon alles geschaft hat. Aber man ist ungeduldig, dass es nicht schneller voran geht. Dass man immer noch so schwach ist, so hilflos.
Ging es mir einen Tag gut, so ging es mir den nächsten Tag schlecht. Weltuntergangsstimmung.
Zum Glück gab es viele liebe Menschen, die mich immer wieder motivierten!
Was mich auch stark "runtergezogen" hat, war mein nicht heilen wollender Dekubitus auf dem Schulterblatt. Ich hatte mich von dem langen Liegen auf der Intensivstation an mehreren Stellen aufgelegen. Vielleicht ist es auch durch mein unkontrolliertes Strampeln passiert.
Diese Stelle ist endgültig im Februar 2004 verheilt!

Nach drei Wochen war es endlich so weit: ich durfte für einen Tag auf "Heimaturlaub"! Man hat plötzlich ein neues Ziel und übersteht die
Wochen im Krankenhaus ein wenig besser. Allerdings war das Ganze für mich mega anstrengend - ich habe mich hinlegen müssen und dabei geschlafen, wie ein Murmeltier. Ein unbeschreibliches Gefühl, wieder im eigenen
Bett zuliegen! Wenn auch nur für eine Stunde.
Ab diesen Tag durfte ich jedes Wochenende für einen Tag "raus".
Am 24.09.2003 gab es wieder einen großen
Erfolg für mich: ich war zum ersten Mal allein im Krankenhausgelände mit dem Rolli unterwegs
und bin sogar den "Berg" hochgekommen.
Urlaub

Ich war unglaublich stolz auf mich!
Vor lauter Freude über meinen Erfolg rief ich meinen Freund an. "Ich bin den Berg hochgekommen" sagte ich durch das Telefon. Durch meine Verletzungen verstand er mich nicht richtig. Er fragt immer, was für ein "Werk" bist du hoch gekommen? Ich hörte mich nicht wie "Berg" sondern wie "Werk" an. Das Reden klappte ja noch nicht richtig. Also formulierte ich den Satz "Ich bin den Berg hochgefahren äh.... die Anhöhe hochgekommen" um. Da verstand er es und hat sich mit mir gefreut. Über diesen Dialog müssen wir selbst heute noch lachen.

Während meines Aufenthaltes wurde neben Physiotherapie auch Ergotherapie gemacht. Zum einen sollte damit die Empfindungen des Mundes und der Wange angeregt werden. Zum anderen lernte ich mit speziellen Übungen Wörter wieder einigermaßen verständlich auszusprechen. Aufgrund des Taubheitsgefühls und des fehlenden Stücks Lippe gestaltete sich das Sprechen sehr anstrengend für mich.

Nach ungefähr 4 Wochen hatte ich mich konditionsmäßig so weit, dass ich den Rolli links stehen ließ und alles nun zu Fuß zurücklegte.

Treppensteigen war eine Herausforderung: raufzu ging es einigermaßen aber runter war es sehr problematisch, da ich ja den Kopf nicht bewegen konnte und somit nicht auf die nächste Stufe schauen konnte.

Ich ging sozusagen fast blind.

Es war auch eine Herausforderung an meine Beinkondition. Wochenlang sind die Beine zwangsläufig geschont worden. Das führte schon zu leichten Muskelkatererscheinungen beim Treppesteigen.
Anfang Oktober 2003 wurde die Platte aus dem Oberkiefer entfernt.
Das Ganze mit örtlicher Betäubung. Es war der reine Horror für mich.
Als ich die aufgereihten Instrumente sah und die grüne OP-Kleidung lagen bei mir die Nerven dermaßen blank, dass ich Panik bekam und jämmerlich heulen mußte. Und zu allem Übel hat es auch noch tierisch weh getan. Ich war anschließend ganz schön mies drauf - ein psychischer Rückschlag.

Ich habe 4 Wochen gebraucht, um endlich aus einem Glas zu trinken. Bis dahin klappte das nur mit einer "Schnabeltasse". Ich hatte wieder eine Hürde geschafft! Anfänglich habe ich dabei noch ein bissel gesabbert. Aber was sollīs.
Wer mal beim Zahnarzt eine Betäubungsspritze bekommen hat, eine taube Lippe hat und anschließend etwas trinken will, versteht vielleicht mein Problem.

Ca. 14 Tage nach dem Entfernen der Platte und dem Ziehen dieser Fäden durfte ich vorsichtig anfangen, wieder festere Nahrung zu mir zu nehmen. Natürlich sollte ich nicht gleich ein zähes Steak oder gar hartes Brot essen. Es war ein tolles Eßgefühl, nicht mehr alles püriert zu bekommen. Stellen Sie sich einfach nur mal ein Stück Fleisch püriert vor... Man muß zwar nicht kauen, aber bekanntlichermaßen ißt das Auge ja mit. Brrr.
Allerdings kann ich selbst heute (Frühsommer 2004) nur auf der linken Seite kauen. Rechts sind ja so gut wie keine Zähne mehr.

Als Vorbereitung für den großen Tag - Entfernung Halofixateur - wurde ich zur Computerthomograpie (CT) in den anderen Teil des Krankenhauses gefahren. Zum Glück war der Heilungsverlauf zufrieden stellend.
Es bestand immer noch die Gefahr des nicht ordungsgemäßen Verheilen, dann wären die beiden Wirbel in einer Operation verplattet worden. Folge wäre aber, dass ich den Kopf gar nicht mehr bewegen hätte können.

In einer Woche kommt das "Folterinstrument" runter.

Sosehr wie man sich es wünscht und herbeisehnt, sosehr hat man Angst davor! Ich hatte schon fast Panik. Kann ich meinen Kopf überhaupt selber halten? Wird das Ganze sehr schmerzhaft? Aber mit einer Beruhigungstablette kann man selbst das überstehen.
Und so wurde ich nach reichlich 12 Wochen von dem Halofixateur befreit. Eine Schwester stand hinter mir und hielt meinen Kopf. Der Doktor schraubte dann Teil für Teil ab. Und dann war ich frei!

Ohne den Fixateur wurde logischerweise meine Koordination besser: ich lief immer sicherer und auch weiter.
Ich konnte nun auch mit ins Schwimmbecken und trainieren. Übungen unter Wasser verbesserten relativ schnell meine Bewegungseinschränkung von Schulter und Arm. Obwohl ich selbst heute dort noch eine Einschränkung habe.
Vorerst durfte ich nur auf dem Rücken schwimmen, da das Brustschwimmen die Halswirbelsäule stark beansprucht. Beim Rückenschwimmen behinderte mich jedoch meine rechte Schulter. Mit Aquagymastik kann man aber auch viel an Körperertüchtigung erreichen.

Nach der Abnahme des Fixateurs durfte ich am Wochenende das erste Mal zu Hause schlafen. Es war wunderschön, in seinem Bett nach so langer Zeit einzuschlafen und am nächsten Morgen wieder aufzuwachen. Es kehrte mit jedem Tag mehr Normalität in mein Leben.

Was mich zu der Zeit arg belastete, war, wenn irgendetwas schief ging. So rastete ich einmal förmlich aus, als ich beim Trinken etwas verschüttete. Ich hatte noch immer große Probleme damit, teilweise so hilflos dem Ganzen Dilemma ausgesetzt zu sein.

Am 12.11.2003 wurde ich nach genau 112 Tagen endlich aus der stationären Behandlung in eine teilstationäre Behandlung entlassen.

D. h., ich schlief jeden Tag zu Hause und kam 3 mal in der Woche zur Frühreha ins Krankenhaus.
Endlich wieder zu Hause! Und wissen, dass es nicht nur für eine Nacht am Wochenende ist. Einfach unbeschreiblich. Ich lief durch unsere Wohnung und sog jede Einzelheit in mir auf. Über jede Pflanze, die meine ewig lange Abwesenheit überlebt hatte, freute ich mich. Die erste Nacht in richtiger Freiheit, ein super Gefühl. Und dann noch eine Nacht, und noch eine,...
Nach so einem schweren Unfall und langen Krankenhausaufenthalt schließt sich immer eine Anschlußheilbehandlung in einer Rehaklinik an. Nach 112 Tagen im Krankenhaus wäre es mir ein Greul gewesen, in die nächste Klinik wechseln zu müssen. Ich wäre wahrscheinlich sehr depressiv geworden. Ich wollte und brauchte meine gewohnten "vier Wände"! Soll auch durchaus der Heilung zuträglich sein, in seiner Umgebung bleiben zu dürfen.
Und da es im Wirbelsäulenzentrum die Kapazität gab, mich dort weiter zu behandeln, setzte ich einige Hebel in Bewegung. Auch die Fürsprache von Dr. Pätzug war erfolgreich.
Ich durfte in Chemnitz bleiben.
Natürlich war diese Zeit kein Zuckerschlecken. Da die Behandlungen alle kompakt waren, und ich mich zwischenrein nicht hinlegen konnte, war es sehr anstrengend. Nachmittags legte ich mich dann zu Hause mindestens für eine Stunde hin, so kaputt war ich. Aber wie heißt es doch so schön: ohne Schweiß kein Preis.
Zu meinen Reha-Plan gehörten:
Die Adventszeit konnte ich zu Hause verbringen. Allein das war schon fast wie ein Weihnachtsgeschenk. Oft habe ich vor den Kerzen gesessen und nachgedacht, "was wäre wenn". In solchen Momenten wurde mir wieder extrem bewußt, wieviel Glück und Schutzengel ich hatte!
Kurz vor Weihnachten wurde ich dann komplett entlassen, also keine teilstationäre Behandlung mehr. Weihnachten wieder zu Hause!
Es war Christians größter Wunsch, mich an Weihnachten zu Hause zu haben. Und ganz am Anfang standen die Chancen dafür ziemlich schlecht. Anfang September 2003 wurde es auch zu meinem größten Wunsch. Logisch! Und der Wunsch wurde zum Ziel! Selbst als es mir langsam im Wirbelsäulenzentrum besser ging, dachten wir beide, dass es vielleicht nur ein "Besuch" zu Hause sein wird.
Aber ich habe mit meinem unerschütterlichen Willen, trotz vieler Rückschläge, dieses große Ziel erreicht.

Ich habe versucht, jedem Moment das positive abzugewinnen! Ich habe viele Tiefpunkte erlebt - habe viele Tränen vergossen. Aber ich habe es geschafft!

Weiter gehts mit der Heilung

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